Handaufzucht

Ziel in einem Zoologischen Garten ist, dass Jungtiere möglichst auf die gleiche Weise wie in der Natur großgezogen werden. Beim Großen Panda beispielsweise ist die Aufzucht alleinige Sache der Mutter. Bei den Königspinguinen wiederum wechseln sich die Elterntiere beim Wärmen und Füttern der Küken ab. Bei manchen Tierarten wie den Erdmännchen schlüpfen auch andere Gruppenmitglieder in die Rolle des Babysitters.

Manchmal kommt es leider vor, dass sich die Elterntiere nicht um die Aufzucht ihres Jungtieres kümmern können, etwa wenn die Mutter schwer erkrankt oder verstirbt. In der Natur bedeutet dies meist sehr geringe Überlebenschancen für das Jungtier. Im Zoo muss dann ein Fachgremium von Zoologen und Tierärzten des Tiergartens in Abstimmung mit dem jeweiligen Zuchtbuchführer im Sinne des Tierwohls abwägen, ob eine Handaufzucht als Notlösung in Frage kommt.

Die Entscheidung zur Handaufzucht will sehr gut überlegt sein, denn es können folgende Probleme auftreten:

  • Eine fehlende soziale Prägung unter Artgenossen beinhaltet später meist Probleme in der sozialen Integration, bei der Fortpflanzung und der Jungenaufzucht.
  • Erlernte Verhaltensweisen einer Tierart können verloren gehen und die Fähigkeit eines Tieres, kompetent mit seinen Artgenossen zu kommunizieren, kann nicht erworben werden.
  • Jedes noch so gute Aufzuchtfutter ist kein hundertprozentig gleichwertiger Ersatz. Etwa die Kolostralmilch, die wichtige Antikörper enthält und zum Aufbau des Immunsystems dient, kann durch nichts ersetzt werden. Deshalb sind handaufgezogene Tiere manchmal schwächer entwickelt und anfälliger für Erkrankungen.
  • Gelingt eine Resozialisierung nicht oder nur mangelhaft, neigt das Tier im Erwachsenenalter häufig zu stereotypem Verhalten.

Im Tiergarten Schönbrunn gelten folgende Grundsätze:

  1. Eine Naturaufzucht ist einer Handaufzucht grundsätzlich vorzuziehen.
  2. Für die Entscheidung zu einer Handaufzucht ist ausschlaggebend, ob die Tierart von der Weltnaturschutzorganisation IUCN als "gefährdet", "stark gefährdet", "vom Aussterben bedroht" oder "in der Natur ausgestorben" eingestuft wird und/oder ob diese Tierart in Zoologischen Gärten nur selten gezüchtet wird und die Zoopopulation entsprechend klein ist. Für den Erhalt einer Art und die genetische Vielfalt kann jedes Individuum oder eine spezielle genetische Linie von entscheidender Bedeutung sein.
  3. Es gibt Alternativen, die der reinen Handaufzucht vorzuziehen sind. Dazu zählen die Ammenaufzucht, bei der ein anderes Muttertier die Aufzucht übernimmt, und die Parallelfütterung, bei der das Jungtier im natürlichen Sozialverband verbleibt und von Tierpflegern mit geringst möglichem Kontakt gefüttert wird.
  4. Handaufgezogene Tiere sollen möglichst früh in den natürlichen Sozialverband resozialisiert werden. Tiere, bei denen eine Resozialisierung ausgeschlossen ist, werden nicht von Hand aufgezogen.
  5. Ziehen die Eltern das Jungtier nicht auf und eine Handaufzucht ist ebenfalls ausgeschlossen, wird das Jungtier aus Tierschutzgründen eingeschläfert.

 Spezialfälle der Handaufzucht im Tiergarten Schönbrunn

Waldrapp

Der Waldrapp zählt zu den am stärksten bedrohten Vogelarten der Welt. Im 17. Jahrhundert wurde er in Mitteleuropa ausgerottet. Gemeinsam mit dem Waldrappteam arbeiten wir daran, ihn wieder heimisch zu machen. Bei einem Zugvogel ist dies kein leichtes Unterfangen. Waldrapp-Küken, die in Zoos schlüpfen, kennen die Flugroute in ein Winterquartier nicht. Sie werden von menschlichen Ziehmüttern mit der Hand aufgezogen und bewusst auf sie geprägt, damit diese ihnen in Ultraleichtfluggeräten den Weg vorfliegen können.

Nördlicher Felsenpinguin

Der Tiergarten Schönbrunn zählt zu den wenigen Zoos weltweit, die jedes Jahr Nachwuchs bei den stark gefährdeten Nördlichen Felsenpinguinen verzeichnen können. Aufgrund der kleinen Zoopopulation ist jedes Küken entscheidend. Schlüpfen in einem Nest Zwillinge, würde in der Wildbahn nur eines der Küken überleben. Im Tiergarten wird das zweite schwächere Küken mit der Hand aufgezogen. Auch die Küken, die von den Eltern großgezogen werden, werden vorübergehend in die Obhut der Pfleger übernommen, damit sie an die Fütterung per Hand gewöhnt werden.

Felsensittich

Bei der Handaufzucht von Papagei Jorge konnten junge Tierpfleger unter der Anleitung erfahrener Pfleger wichtige Erfahrungen sammeln. Die Weitergabe dieses Spezialwissens über Generationen als Teil der Tierpfleger-Ausbildung ist essentiell. Der kleine Felsensittich hatte keinen guten Start ins Leben. Eines seiner Geschwister ist in der Bruthöhle so unglücklich auf ihm draufgesessen, dass sein Kopf verdreht war und die Eltern ihn nicht füttern konnten. Der Sittich wurde letztendlich erfolgreich in die Gruppe integriert.

Jamaika- und Rotspiegelamazonen

2011 gelang ein großer Schlag gegen den Tierschmuggel: Der Zoll beschlagnahmte am Wiener Flughafen 74 Papageien-Eier und bat den Tiergarten um Hilfe. Innerhalb kürzester Zeit mussten Teams aus erfahrenen Pflegern gebildet, Räumlichkeiten adaptiert, Brutschränke angeschafft und Futter besorgt werden. Nach dem Schlupf stellte sich heraus, dass es sich um gefährdete Jamaika- und Rotspiegelamazonen handelt.